Führung "Unheilsspuren" mit Pfr. Töllner

„Unheilsspuren“ – Führung zu antijüdischen Darstellungen in St. Lorenz, Frauenkirche, St. Sebald am 13. September 2020.

Die christliche Judenfeindschaft hat ihre Spuren an vielen mittelalterlichen Kirchen hinterlassen, in Stein gehauen, auf Tafelbilder gemalt oder im Kirchenbau selbst. Zugleich haben diese sichtbaren Zeugnisse wiederum die Vorstellungen der Gläubigen über das Judentum beeinflusst, weil sie sie jedes Mal sehen konnten, wenn sie in ihre Kirchen gegangen sind. Die einen Darstellungen etwas leichter und einfacher verständlich, die anderen schwerer zu erkennen und zu entschlüsseln. In antijüdischen Abbildungen schlagen sich Theologie und Frömmigkeit nieder, aber immer auch politische und rechtliche Entscheidungen, die die christliche Mehrheit über die jüdische Minderheit fällte. So liefern sie einerseits scheinbar Rechtfertigungen für vorangegangene Gewalt, andererseits wirken sie mit ihrer bleibenden Botschaft auch auf spätere Entscheidungen ein. 

Antijüdische Symbolik in Nürnberger Bürgerkirchen

Auch die zentralen Nürnberger Altstadtkirchen machen da keine Ausnahme. Die frommen Stiftungen von Nürnberger Patrizierfamilien in beiden Bürgerkirchen St. Sebald und St. Lorenz sind nicht nur Ausdruck persönlicher Glaubensüberzeugungen, sondern bezeugen und unterfüttern auch das Selbstverständnis der Politik, die diese Familien in den Organen der Reichsstadt mitprägten. Juden gelten als die Schuldigen für das Leiden und den Tod des Gottessohnes Jesus

Christus. Das zeigen beispielsweise Passionsdarstellungen wie das Tucher-Fenster aus dem späten 14. Jahrhundert oder das Epitaph für Klara Löffelholz aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in St. Sebald. Die Folterknechte sollen als Juden erkennbar sein, etwa durch den „Judenhut“, wie ihn männliche Juden als Standestracht im Spätmittelalter getragen haben. Aber auch hebräische oder hebräisch aussehende Schriftzeichen an der Kleidung oder in Schriftrollen verdeutlichen unmissverständlich, dass Übeltäter aller Art als jüdisch erkannt werden sollen.

Ebenfalls um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden ist der Dreikönigsaltar in St. Lorenz. Er inszeniert die Legende vom Kindermord in Bethlehem als Mordtat von Juden.

Die hebräischen Buchstaben am Saum des Gewandes sollen den Schluss nahelegen, dass „den Juden“ das erdenklich Böseste zuzutrauen ist, der Gottesmord und der Kindermord. Als „Kindermörder Israel“ hallt diese uralte Diffamierung heute im Hass auf den Staat Israel nach.

Juden als "Urbild aller Abtrünnigen"

„Du Jude“ ist nicht erst dieser Tage zum Schimpfwort geworden. Schon in der Spätantike und im Mittelalter galten Juden als Referenzgröße für übelstes Fehlverhalten, Charaktermängel und Abweichung von der rechten Norm. Sie galten als Urbild aller Abtrünnigen vom wahren Glauben und hatten deshalb furchtbare Strafen zu erwarten. Das zeigen die Weltgerichtsdarstellungen sowohl an St. Lorenz als auch an St. Sebald: Christus scheidet die

gesamte mittelalterliche Gesellschaft als Weltenrichter, Adlige, Angehörige des geistlichen Standes und das Bürgertum. Die einen werden gerettet zum ewigen Leben, die andere zur ewigen Verdammnis. Auf beiden Seiten finden sich Vertreterinnen und Vertreter aller Gruppen – mit einer Ausnahme. Juden finden sich lediglich unter den Verdammten, ja, als vermeintliche Erzbösewichte und Verführer stehen sie sogar an der Spitze des Zuges der Verdammten.

Das Sebalder Marienportal und die „Judensau“-Skulptur diffamieren Juden und das Judentum auf besonders drastische Weise. Durch das Marienportal haben früher die Eltern ihre Kinder zur Taufe gebracht. Die mittelalterliche Legende des Marienbegräbnisses über der „Tauftüre“ zeigt mit brutaler Gewalt gegen Juden, welche dramatischen Folgen die Abwendung von der wahren christlichen Kirche und die gotteslästerliche Abweichung vom rechten Glauben hat: Blindheit, Verkrüppelung und Lähmung. Allein der Glaube an die wahre Kirche rettet davor – und für

die steht symbolisch die Figur der Maria. Selbst die tote Maria triumphiert und macht die Juden, die ihr Begräbnis stören wollten, blind und unfähig. So lautet die vordergründige Botschaft der Legende. Im übertragenen Sinn bedeutet das: Die Kirche hat über die Synagoge gesiegt. 

Im frühen 14. Jahrhundert, als das Portal entstand, lag der blutige Pogrom von 1298 etwa 20 Jahre zurück, bei dem ein Mob über 700 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet hatte, der sich selbst als christlich verstand. Etwa 30 Jahre nach dem Bau des Marienportals wurde die steinerne Hassbotschaft blutige Wirklichkeit: In einer Mischung aus politischem Kalkül und wirtschaftlichen Interessen zerstörten die Nürnberger Patrizier und ihre Handlanger mit dem Segen Kaiser Karls IV. das jüdische Viertel ganz in der Nachbarschaft der Kirche. Im Dezember 1349 ermordeten sie über 500 Kinder, Frauen und Männer, nur weil sie jüdisch waren, und zerstörten deren Synagoge. Im Nachhinein verbrämten sie all das als fromme Tat und Karl IV. ließ über den Ruinen der Synagoge eine Kirche als christliches Triumphzeichen über das Judentum errichten, ein Gotteshaus zu Ehren der Patronin der christlichen Kirche, Maria. So ist die Frauenkirche Ausdruck der Gegenüberstellung der siegreichen Kirche und der geschlagenen Synagoge, wie er sich auch in der allegorischen Darstellung des Frauenpaars Ecclesia und Synagoga, etwa am Bamberger Dom, zeigt.

Tief verwurzelter Judenhass

Weitere rund 30 Jahre danach erreichte die Darstellung des Judenhasses ihren traurigen Tiefpunkt. Auch wenn sie nur schwer zu finden und zu sehen ist, so ist ihre Botschaft eindeutig: Am neuen Ostchor von St. Sebald brachte man im späten 14. Jahrhundert eine Skulptur an, die alles Jüdische verhöhnt und dämonisiert: Das „Judensau“-Motiv bringt ein Schwein und vier Menschen in eine symbiotische Beziehung. Und diese Menschen sollen an ihren

Kopfbedeckungen als Juden erkennbar sein. Es verhöhnt das göttliche Gebot an Juden, kein Schweinefleisch zu essen. Als Symbol für verschiedene Laster wie Gier, Ausschweifung und Zügellosigkeit diffamiert das Schwein pauschal das Verhalten jüdischer Menschen. Als Verkörperung des Teufels erklärt es „die Juden“ kollektiv zu Handlangern des Bösen und dämonisiert sie als diabolische Wesen. Nur als ständige Erinnerung gegen das Verdrängen, die Schönfärberei, das Relativieren und den Selbstbetrug geschichtspolitischer Wenden hat das Schandmal noch eine Existenzberechtigung. Eindringlich zeigt es, wie tief der Judenhass in unserer christlich geprägten Kultur wurzelt, in welchem Ausmaß Menschen und Kirchen, die sich als christlich verstanden, antijüdische Denkmuster und Zerrbilder verbreitet haben und welch abgrundtiefe Bosheit Judenhass bereits lange vor der Schoah angenommen hatte.

So giftig dieser Hass ist, so verheerend sind auch die scheinbar subtilen Weichenstellungen, die die Figuren einteilt: die Guten auf die christliche Seite, die schlechten auf die jüdische. Die Kirchen sind ja voller Bilder von Jüdinnen und Juden, aber in der Regel sollen nur die auch als jüdisch erkannt werden, die für das Alte, das Überholte, das Fremde und Exotische stehen oder die sozusagen als warnendes Beispiel die Bösewichter und Abtrünnigen verkörpern. Jesus und die Jünger, Maria, Elisabeth, Petrus und Paulus dagegen erscheinen als „die Unseren“, als

Christinnen und Christen also. So stellt die Anbetung der Könige auf der Haupttafel des Dreikönigsaltars in St. Lorenz die Dinge auf den Kopf: Maria und Josef erscheinen ganz und gar dejudaisiert als die (christlichen) Unseren, während der erste König mit seinen hebräischen Buchstaben am Gewand den Fremdling verkörpert, der von außen dazukommt.

Projektionen und Identitätskonstruktionen

Auch der Paulus auf dem Sebalder Wandgemälde mit Szenen aus der Pauluslegende erscheint mit seinem Nimbus als christlicher Heiliger, während die Hohenpriester und der Scherge Kaiser Neros an ihren Hüten als Juden identifiziert werden sollen. Im Sprichwort „vom Saulus zum Paulus“ klingen die Verachtung des Judentums und der scheinbare Gegensatz des Christentums zum Judentum nach. Das Wort legt ja nahe, dass sich der Apostel bei seiner Christusvision

vom Bösen zum Guten bekehrt habe und vom Judentum zum Christentum konvertiert sei. Wer in der Apostelgeschichte nachliest, wird darauf stoßen, dass Saulus auch nach seinem „Damaskuserlebnis“ noch Saulus genannt wird und erst dann seinen griechischen Namen Paulus verwendet, als er beginnt, sich an die nichtjüdischen Griechen zu wenden. Paulus selbst hat sich nie als Christ bezeichnet, sondern stets als Jude, als Pharisäer, als Israelit. Das Sprichwort verdankt sich keiner neutestamentlichen Tradition und ist eine reine Rückprojektion einer späteren Identitätskonstruktion in das erste Jahrhundert. 

Unterschiedliche Praktiken - gemeinsame Grundüberzeugungen

In den letzten Jahren sind zahlreiche Forschungsarbeiten erschienen, die zeigen, wie langsam sich Christentum und Judentum im Lauf von Jahrhunderten voneinander entfernt und als eigenständige Religionsgemeinschaften abgegrenzt haben. Beide waren nicht auf einmal da als fertige Religionen mit ausgebildeten gegensätzlichen Lehren. Heute sind Judentum und Christentum zwei verschiedene Gemeinschaften mit unterschiedlichen Praktiken und Glaubensüberzeugungen. Doch stehen sie einander keineswegs als Gegensatz gegenüber, wie viele Kunstwerke nahelegen, denn es gibt Vielfalt und gemeinsame Grundüberzeugungen. Die mittelalterlichen Kunstwerke zeigen neben beeindruckender Frömmigkeit und theologischer Tiefsinnigkeit auch die Gefahren, die in der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften und Verhaltensweisen und in der Selbstdefinition durch Abwertung anderer stecken. Und sie zeigen, wie nötig es ist, sich selbst zu prüfen.

Text: Dr. Axel Töllner, landeskirchlicher Beauftragter der Ev.-Luth. Kirche in Bayern für christlich-jüdischen Dialog

© Fotos: Christian Oberlander